Rau, unbequem, aber echt. Warum Tourismus in dünn besiedelten Räumen nur als Ko-Kreation funktioniert
Letzte Woche, irgendwo im Norden Brandenburgs. Ortsentwicklungskonzept. Eingeladen als "Experte". Gemeindefläche 250 Quadratkilometer Landschaft, 16 Einwohner pro Quadratkilometer. Eine der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Und trotzdem: Es gibt #Tourismus. Menschen, die Radwege pflegen, Beschildern, Gäste empfangen, Fördermittel beantragen. Menschen, die bleiben und gestalten.
Allerdings auch: Die klassische Logik – hier Anbieter, dort Nachfrager – funktioniert an diesen Orten nicht. Es braucht etwas anderes, vielleicht eine Transformation des Tourismusbegriffs in peripheren Räumen – weg vom Marktmechanismus, hin zur sozialen und kulturellen Infrastruktur des Bleibens.
Und beim darüber nachdenken, was dieser „andere“ Art von Tourismus sein könnte, kommen mir folgende Gedanken in den Sinn:
1. Tourismus als soziales Signal
„Wir sind noch da“, dieser Satz ist entscheidend. Tourismus ist hier weniger Wirtschaftsfaktor als Existenzbeweis einer gestaltenden Gesellschaft. Ein Gasthof, ein kleiner Radweg, ein Café, eine Ferienwohnung. Sie sind Zeichen einer aktiven Gemeinschaft. Sie stiften Öffentlichkeit, Begegnung, Sichtbarkeit. Sie halten Kommunikation und Selbstwahrnehmung lebendig.
Insofern ist Tourismus in solchen Regionen eine Form von kommunaler Selbstbehauptung.
2. Tourismus als Daseinsvorsorge
Wenn man Daseinsvorsorge weiter denkt, also nicht nur Wasser, Müll und Straße, sondern auch soziale, kulturelle und emotionale Grundversorgung, dann gehört Tourismus als öffentlicher Begegnungsraum dazu:
als Ort der Selbstvergewisserung („Was ist hier lebenswert?“),
als Ort der Außenkommunikation („Was zeigen wir anderen?“),
als Ort der Allianzen (Zweitheimische, Rückkehrer, Raumpioniere).
Er wird damit Teil einer neuen ländlichen Infrastrukturpolitik, die Daseinsvorsorge, Klimaresilienz und kulturelle Lebendigkeit gemeinsam denkt.
3. Tourismus als Landschaftspolitik
Tourismus wirkt hier auch als Form des Landschaftsschutzes durch Nutzung. Denn wo Menschen Landschaft erleben, entsteht auch eine Legitimation, sie zu pflegen. Nicht durch Konsum, sondern durch Beziehung. Das unterscheidet ihn von der Agrar- oder Forstwirtschaft:
Tourismus in seiner minimalistischen, gemeinwohlorientierten Form hält Landschaft offen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
4. Die Grenze des Tourismus
Aber auch: Nicht jeder Ort muss Tourismus machen. Manche Landschaften sind für Landwirtschaft, Naturschutz oder Energieproduktion relevanter. Tourismus darf nicht die letzte Projektionsfläche einer strukturschwachen Region sein, sondern muss als eine mögliche Ausdrucksform des Lebensraums verstanden werden.
Darin liegt seine Würde und seine Grenze.
Fazit
Was bleibt, ist eine klare, vielleicht unbequeme, aber ehrliche Erkenntnis: In solchen Räumen ist Tourismus keine Branche, sondern ein Beziehungssystem zwischen Menschen, Landschaft und Bedeutung. Er funktioniert nicht über Märkte, sondern über Sinn.
Er lebt von Menschen, die keinen Markt suchen, sondern Bedeutung. Sinnsucher, die gemeinsam mit Einheimischen kleine Wertegemeinschaften bilden, Orte bewahren, die sonst verloren gingen. Hier ist Tourismus Ko-Kreation. Der Gast wird Teil des Prozesses, nicht Kunde eines Produktes. Er hilft mit, Orte lebendig zu halten. Die Gastgeber wiederum sind weniger Dienstleister als Moderatoren einer geteilten Verantwortung.
Das Ergebnis ist rau, und jenseits der städtischen Bequemlichkeit (nächste Tankstelle 16 km entfernt!) aber echt. Denn diese Landschaften erschließen sich nur für jene, die sich selbst öffnen.
Man wird nicht gefahren, man geht.
Man bekommt nichts serviert, man entdeckt.
Man spürt sich selbst, weil man gebraucht wird.
Vielleicht ist das der wahre Kern eines zukünftigen Tourismusverständnisses in solchen Orten wie gestern Abend:
Nicht Wachstum, sondern Beziehung.
Nicht Markt, sondern Sinn.
Nicht Konsum, sondern Mitgestaltung.
Im Dunkeln heim. Der Sternenhimmel so hell. Vielleicht ist das genug.