Quergelesen: wer oder was ist eigentlich Overtourism?

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Es erscheint paradox: zwei Themen bewegen die öffentlichen Diskussionen in der Branche. Einerseits, gerechtfertigt und uneinholbar auf Platz 1: die aktuelle Corona-Pandemie und deren wirtschaftlich-gesellschaftliche Auswirkungen durch das fehlen von Gästen und Kunden.

Andererseits aber gleichzeitig öffentliche Diskussionen über Besuchermessung und -lenkung, Übernutzung von Räumen, Bewahrung sensibler Gebiete vor Menschenansammlungen und –massen. Technologie hilft, verhindern aber oft nur das Schlimmste. Erste Marketingorganisationen gehen dazu über, ihre Top-Produkte, sprich die besonders reizvollen Landschaften nicht mehr zu bewerben, andere sehen die Stunde des „Managements“ gekommen.

Klar wird auch: für Overtourism/Übertourismus braucht man in Deutschland keine Tourist:innen von außen. Reise- und Ausflugsweltmeister sind wir selbst, wie man nicht nur im Winter in den Skigebieten, sondern auch jedes Wochenende in vielen Naturschutzgebieten feststellen können, trotz oder gerade wegen der weitgehenden Schließung touristischer Einrichtungen.

Für all diejenigen, die sich noch tiefer mit dem Phänomen Overtourism beschäftigen wollen, habe ich vier aktuelle Publikationen ausgesucht und quergelesen:

Torsten Kirstges „Tourismus in der Kritik: Klimaschädigender Overtourism statt sauberer Industrie?“, München 2020, 149 Seiten

ISBN: 978-3-8252-5338-7

Es ist wenig verwunderlich, dass in den letzten Monaten bestimmte Begriffe, die vor nicht allzu langer Zeit medial inszeniert wurden, fast wieder aus dem Wortschatz verschwunden sind. Sie erinnern sich? #Flugscham #Fleischscham #Konsumscham #Kreuzfahrtscham usw. waren Diskurswörter seit 2017, die das gestiegene Umweltbewusstsein der Gesellschaft in Begriffe packten. Viele davon hatten auch den Tourismus als Gegenstand und langsam kam, nicht nur bei mir, der Verdacht auf, dass es bald auch Touristscham geben wird: Touristen, das sind die anderen!

In Torsten Kirstges Publikation werden kompakt alle Vorwürfe gegen den globalen Tourismus zusammengefasst: Abfall, Bioinvasion, Skitourismus, Kreuzfahrten, Kinderprostitition, Tierleid, CO2-Ausstoß u.a.m. Die Liste ist lang und liest sich wie eine Anklageschrift, auch wenn Kirstges nicht anklagt, sondern sachlich darstellt. Auch wenn man als deutsche Destination viele der Herausforderungen nicht hat, sind wir doch Teil des Systems und es bleibt wichtig, immer über sich selbst hinausschauen.

Gibt es überhaupt eine Lösung? Dafür schaut sich Kirstges das Konzept des nachhaltigen/sanften Tourismus an und stellt die These auf: „Nehmen wir einmal an, es gelänge, alle Urlauber von der Notwendigkeit sanfterer Reiseformen zu überzeugen. (…) Bereits nach der ersten Saison, in der sich alle ´sanften´Touristen von den verbauten und umweltschädigenden Mittelmeerorten abkehren und – sagen wir z.B. – in die österreichische Bergwelt zum umweltfreundlichen Wandern zurückziehen würden, müsste Österreich seine Berge wegen Überfüllungsgefahrt und Naturschäden schließen.“ (S. 136) Mmmhhh? Reisen in einer freiheitlichen Welt einzuschränken, funktioniert also nicht. Bliebe der Ausweg auf die Angebotsseite. Aber auch hier sieht Kirstges keine durchgreifende Erfolgsaussichten, denn es sei nicht zu erwarten, „dass eine freiwillige Internalisierung von negativen externen Effekten und ein Verzicht auf Opportunitäten in größerem Maße durch die Märkte erfolgt (…).“ (S. 148) Sprich: wieso sollte eine Billig-Airline ihre Preise erhöhen?

Nur die Politik könne dieses Dilemma lösen, indem sie gleiche Standards für alle Marktteilnehmer durchsetzt, auch wenn diese unpopulär und ggf. nachteilig sind. Das scheint allerdings ebenfalls in letzter Konsequenz unmöglich.

Was bleibt für Kirstges? Nur der Appell an persönliches und einzelunternehmerisches Verhalten im Sinne eines sanfteren Tourismus, der seinen eigenen Ansprüchen & Werten allerdings immer einen Schritt hinterher ist.

Dieses Fazit kann mich natürlich nicht befriedigen, ist es mir in seiner Grundaussage doch zu pessimistisch, obwohl Torsten Kirstges das nicht beabsichtigt hat, sondern eher einen realistischen Blick auf die Welt gibt. Gleichzeitig bietet er aber auch einen knackigen Überblick über die Herausforderungen, vor denen wir als Beteiligte der Tourismuswirtschaft stehen. Deshalb empfehlenswert für alle, die sich einen Überblick über den Tourismus, wie er auch sein kann, verschaffen wollen. Mit knapp 20 Euro ist man dabei.

Julia Wendorff „Overtourism in Europa und Asien“, München 2019, 90 Seiten

ISBN: 978-3-9648-7008-7

Die kleine Publikation ist ein Imprint einer Bachelorarbeit und lässt sich in gut einer Stunde weglesen. Verglichen werden vier europäische (Amsterdam, Barcelona, Dubrovnik, Venedig) mit vier asiatischen (Bali, Boracay, Ko Phi Phi Leh – Maya Bay, Taj Mahal) Destinationen in Bezug auf die ökologischen, soziokulturellen sowie wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen.

Die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen der Autorin sind u.a.:

  • Einführung von Ankunftsbeschränkungen und –quoten

  • Bewerbung der Nebensaison

  • Schaffung neuer Routen und Attraktionen zur besseren Verteilung

  • Differenzierte Preisgestaltung

  • Regulatorische Maßnahmen wie Beschränkung der Unterkünfte, Verbot von rein touristischen Gewerken

  • Langfristige Destinationsstrategie

Das ist für die oder den geübten Overtourism-Expert:in nicht neu, bietet aber einen Einstieg ins Thema. Allerdings ist die Publikation mit über 40 Euro auch kein Schnäppchen.

Andreas Kagermeier „Overtourism“, München 2021, 207 Seiten

ISBN: 978-3-8252-5417-9

An Andreas Kagermeiers Veröffentlichung sieht man, wie wichtig es wäre, mehr Forschung im touristischen Bereich zuzulassen und zu fördern. Schon auf den ersten Seiten wird klar, hier ist ein Wissenschaftler am Werk, der sich nicht mit launigen Feuilleton-Duktus dem Thema nähert, sondern mit glasklarer Analytik.

Für ihn ist es kein Wunder, dass die Overtourism-Diskussion an Fahrt aufgenommen hat. Viel zu lange hätte der Tourismus das Wachstum gepredigt und wurde von zunehmenden Protesten verstärkt ab 2017 „kalt erwischt“ (S. 19). Für Kagermeier steht dabei der Städtetourismus im Mittelpunkt der Kritik, der, getrieben vom New Urban Tourism (d.h. dem Tourismus außerhalb der sog. „Straße der Ameisen“) und Sharing-Angeboten wie AirBnB, in den letzten Jahren massiv an Fahrt aufgenommen hatte.

Sehr viel differenzierter als bei anderen ähnlichen Studien und Vorträgen, die ich in der letzen Zeit rezipiert habe, wägt Kagermeier die Indikatorensets gegen Overtourism ab, die von verschiedenen Institutionen wie Roland Berger, McKinsey oder der UNWTO vorgeschlagen werden und macht anhand der Metropolen Berlin und München den Realitätscheck. Daraus folgen wichtige Erkenntnisse, die unbedingt im Diskurs berücksichtigt werden sollten.

Für mich eine der wichtigsten Feststellungen der Studie: „Da in Berlin ein deutliches Unbehagen bei der Bevölkerung gegen Tourismus zu konstatieren ist, kann dies so gedeutet werden, dass das kognitive Wissen um die ökonomische Relevanz von Tourismus die emotionalen Befindlichkeiten und Anti-Stimmungen nicht bzw. nur sehr partiell kompensieren kann. Auch die sechste UNWTO-Strategie, die positiven ökonomischen Effekte intensiver zu kommunzieren, (…) dürfte nur begrenzt tragfähig sein. Sobald die Stimmung bei den Bewohnern einmal umgekippt ist, lässt sich – der oftmals emotional geführte Diskurs mit solchen kognitiv-rationalen Argumenten wohl nicht mehr ´reparieren´.“ (S. 163)

Die Ursachen dieses Unbehagens mit Tourismus sind dabei nicht zwangsläufig in ihm selbst zu suchen, wie er im Vergleich der beiden Stadträume feststellt: „Eine in sich ruhende, nur wenig von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Spannungen gestresste Stadtgesellschaft, die sich in einem relativen Gleichgewicht des Wohlbefindens bewegt ist gegenüber Irritationen aufgrund der Präsenz von auswärtigen Besuchern weniger vulnerabel.“ (S.195) Kurz gesagt: je gestresster eine Gesellschaft, desto gestresster ihr Umgang mit anderen.  Da werden wir wohl noch tiefer bohren müssen, auch in unserem Raum.

Als besonders bereichernd empfand ich die Ausführungen Kagermeiers zum Spannungsfeld Destination-Lebensraum. Es ist ja in „Touristiker-Kreisen“ hip geworden vom „Lebensraummanagement/-entwicklung“, „touristischen Lebensraummanagement“ oder ähnliches zu sprechen und wie der Tourismus ja seine gestaltende Kraft in die Regional- und Ortsentwicklung einbringt. Alles richtig, auch wenn es manchmal nach „ein bißchen viel Hybris“ klingt. Denn, und das macht die Studie deutlich, besteht zunächst erstmal eine Differenz zwischen einer Destination, der ökonomisch vermarktet und genutzt wird, und einen Lebensumfeld, das von den Bewohner:innen zunächst nicht unbedingt als „kommodifizierbares Produkt“ begriffen wird. Zwar unterscheidet Kagermeier hier zwischen Städtetourismus und ländlichen Räumen und stellt richtig fest, dass der Tourismus in diesen durchaus der Enthalt wirtschaftlicher und freizeitlicher Infrastrukturen auch für die Bevölkerung stärker unterstützt. Aber auch dort bemerken wir, zumindest in einigen Teilräumen Brandenburgs mittlerweile Diskussionen, die wir vor einigen Jahren noch für unmöglich gehalten hatten. Mag das eine oder andere Overcrowding-Phänomen übertrieben oder nur temporär sein, wenn die Corona-Krise ihren Schrecken verliert: die Diskussion insbesondere der sozialen Tragfäigkeit wird uns weiterhin begleiten.

Die großen Maßnahmen, die uns die Studie schließlich mit den Weg gibt, sind:

  • Am Puls der Bewohner bleiben

  • Förderung eines ganzheitlichen Community-Diskurses

  • Kooperative Steuerungsansätze statt Top-Down-Strategien

Schließlich und das vielleicht als wichtigster Gedankenanstoß: Nachdenken über das Ende der Priorität auf Wachtumsorientierung.

Mein Fazit: unbedingt lesenswert und mit 19,90 Euro auch sehr günstig.

Rachel Dodds/Richard W. Butler „Overtourism: Issues, Realities and Solutions“, Berlin/Boston 2019, 281 Seiten

ISBN: 978-3-11-062045-0

Gleicher Titel, aber völlig anders im Aufbau und Inhalt. Der umfangreiche Sammelband führt mich als Leser aus der deutschsprachigen Raum heraus und weitet meinen Blick auf den internationalen Diskurs in drei Teilen: nach einer umfangreichen theoretischen Einführung ins Thema, werden anhand von Case-Studies einzelne Destinationen vorgestellt. Schließlich unterbreiten verschiedene Autoren Vorschläge, wie Overtourism zu managen ist und welche Rolle dabei DMOs, Politik und Verwaltung sowie ein funktionierendes Stakeholder Management spielen.

Die einzelnen Aufsätze der Publikation sind pickepacke voll kluger Gedanken, die sich lohnen mal etwas länger im Kopf hin und her gewälzt und weitergedacht zu werden, was das für die Arbeit der Tourismusorganisationen, aber vor allem für eine integrierte Stadt- und Regionalentwicklung bedeutet. Zum Beispiel stellt Geoffrey Wall fest: „The word ´overtourism´ and much of the literature on the impacts of tourism (…) draws attention to the negative consequences of tourism for destinations and their residents. However, residents and visitors have more in common than is often recognised or acknowledged: they both like attractice and vibrant places, clean air and water, green spaces, efficient transportation and so on.“ (S. 42)

Der daraus resultierende Vorschlag, dass Management von Tourismus Teil eines größeren Prozesses ist und einen ganzheitlichen Ansatz braucht, der nicht auf Quantität, sondern Qualität ausgerichtet ist (S. 231), ist an sich erstmal nicht überraschend, wie aber durch die differenzierte Darstellung der dahinter liegenden Aufgabenstellungen zu einem sehr lesenswerten Gesamtkonzept.  

Gleichzeitig machen die Autoren aber auch deutlich: mit ein bißchen Anstrich mit „nachhaltiger Farbe“ ist es wahrscheinlich nicht getan, denn: „we have to see the enemy and it is us“

Ganz klare Empfehlung, auch für den ganzheitlichen Blick über den Tellerrand und mit knapp über 30 Euro auch nicht teuer.

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